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9. Juni 2021
Abwesenheit. Ein Thema mit Variationen.

Gerade war da noch Musik und sie war grandios.
Gerade hat sie mich und meinen Besen noch aufmunternd
in jede Ecke des ZUGVOGEL_Gastraums begleitet und jetzt

ist sie weg.

Ich kann ihre Abwesenheit körperlich spüren – und die Stille, die sie hinterlässt, hat einen Klang, in dem alles ist, was vorher übertönt wurde. Vögel, Grillen, Wasserplätschern… aber auch etwas anderes, etwas Neues. Der Klang dieser Abwesenheit ist, als würde alles in mir nachschwingen, die lautlose Resonanz einen Raum schaffen, in dem der Moment singen darf. Eine Art von Freude, die aus Erleichterung entsteht, breitet sich aus. Dabei war die Musik doch wirklich und ehrlich grandios. Woran erinnert mich das nur?

Ich würde sagen: an ungefähr alles, was jemals große Wellen schlug und dann gefühlt von einem Augenblick auf den anderen zu Ende war. Mein wildes Leben in der großen Stadt, jemandes intensive Beziehung, eine Prüfung, ein beeindruckender Film. Ein landwirtschaftliches Nutzfahrzeug direkt vor deinem Fenster, ein Zahnschmerz, ein großes Fest (wenn Ihr Euch erinnert). Fast unabhängig davon, ob wir diese Wellen jeweils wünschenswert fanden, ob wir surften oder unterzugehen drohten – wenn sie verebben, bleibt mehr als Nichts. In ihrer Abwesenheit ist Potential. Manchmal auch Potential für Leiden am Verlust, ja. Aber kommt, seid abenteuerlustig mit mir und nehmt mal eben an, da wäre Potential für Unerwartetes, Intuitives – für LEBEN.

Nehmt mal eben an, wir könnten in einer nicht lebensbedrohlichen Abwesenheit die plötzliche und vielleicht anhaltende Stille nutzen, um herauszufinden, wo wir eigentlich stehen. Was wir uns zutiefst wünschen und was wir wirklich brauchen. Wer wir alles sein, welche Wege wir gehen könnten – und zwar nicht nur als Individuen, sondern als lokale und globale Gesellschaft. Leben ist bestimmt von Kommen und Gehen – und von der Tatsache, dass wir beides in letzter Konsequenz nicht kontrollieren können. Vor dem Hintergrund dieser immanenten Logik können wir uns jeden Tag aufs neue fragen, wo es tatsächlich Sinn macht, zu kämpfen – und wo wir die Chance, die in der einen oder anderen Abwesenheit liegen kann, übersehen.

Ich würde mir sehr wünschen, dass wir die so entstandenen Räume immer öfter für neue Melodien nutzen. Dass wir uns trauen, uns selber und unsere Gegenüber neu kennenzulernen, bisher Unversuchtes auszuprobieren, vielleicht schlummernde Fähigkeiten wachzuküssen. Ich wünsche mir immernoch und immer wieder Respekt und Kreativität im Umgang mit unseren Unterschieden. Und letztendlich: egal, wofür wir kämpfen oder beten, wo wir uns positionieren oder an welchem Ort der Erde wir leben – eins der grössten Wunder, die uns zuteil werden können, ist

die Abwesenheit von Angst.

 


Im Yoga
ist die Abwesenheit von Verstrickungen und damit das zur Ruhe kommen des Geistes
eine Grundlage für innere Freiheit, die unabhängig ist von allen Umständen.

 

Wenn Abwesenheit allerdings tatsächlich lebensbedrohlich ist…
…ist das nicht mehr allein eine Frage von Philosophie. Sondern ganz konkret von Zugang zu Nahrung, Wasser und all den Menschenrechten, die selbstverständlich sein sollten. Nicht selten geht es in diesem Zusammenhang auch um die Abwesenheit von Lebensraum und auf eine Art natürlich doch irgendwie immer um Philosophie.

 

In der Kunst (im Tanz zum Beispiel)…
…wird Abwesenheit gern sicht- und erfahrbar gemacht über das Spiel mit Leerstellen,
über das Spannungsfeld von Präsenz und Absenz.

 

Und manchmal:
ist die Melodie des Augenblicks auch käuflich und kann in allen Notsituationen helfen.