Blog

16. April 2020
Ambiguitätstoleranz ist ein klasse Wort –
Nachdenken über Atmen und Handeln in einer komplexen Welt

Da versuchen Menschen zu überleben – über Ostern waren es zum Beispiel wieder hunderte, die in Seenot auf dem Mittelmeer trieben. Hat das etwas mit uns zu tun? Natürlich. Wir leben in einer Welt, die nicht zuletzt aus Entscheidungen geformt ist – wirtschaftlich, ökologisch, politisch, sozial und ethisch – und alles, was passiert, passiert immer auch im Kontext dieser Entscheidungen. Das gilt sowohl in Zeiten, die wir für normal halten, als auch jetzt. Die Zusammenhänge sind nicht immer leicht nachzuvollziehen und schon gar nicht leicht zu ertragen – dazu kommt die Unklarheit, ob und wie diese Welt noch zu retten ist und was ICH zu ihrer Rettung beitragen könnte. Große Fragen. Und ob es nun um die über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen auf diesem Planeten geht oder um Atemmasken, Virologen und Krankenhausbetten – es gibt immer eine Menge Antworten. Eine Menge richtig und falsch. So viele Meinungen, manchmal wird mir ganz schwindlig davon.

Und ich weiss auch wirklich nicht, ob es nicht hin und wieder ganz gut wäre, zunächst noch keine Antwort zu haben. Erstmal auszuatmen im Nichtwissen oder wenigstens zu akzeptieren, dass die Antwort wahrscheinlich 42 ist. Die Uneindeutigkeit zu umarmen, den Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten zu lauschen und der Verlockung der EINEN schlüssigen Interpretation oder Handlungsanweisung zu widerstehen. Ausatmen, natürlich.
In der Weite und der Stille, die im Loslassen der Meinung spürbar werden kann, liegt dann möglicherweise tatsächlich ein Potential für Weltenrettung. Potential für ein wirkliches Verstehen und Erleben der komplexen Bahnen, über die wir mit allem Lebendigen verbunden sind. Über die jeder Schmetterlingsflügelschlag und jedes menschliche Tun das große Ganze beeinflusst. Vielleicht geht es (und ich weiß, ich wiederhole mich) immer um diese Stille. Und um das, was passiert, wenn wir aus ihr heraus auf das reagieren, was ist. Jeden Tag aufs Neue kleine oder grössere Wege finden, die Welt ein ganz klein wenig besser zu machen. In aller Einfachheit und allem Mut, mit Kreativität und aus einem Gefühl der Verbundenheit heraus.

In manchen Momenten erscheint mir die ausatmende Toleranz der Ambiguität sogar der einziger Weg, handlungsfähig zu bleiben. Mein eigenes Selbstbild mit der Tatsache zu konsolidieren, dass ich nicht längst bei SeaWatch im Mittelmeer angeheuert habe, ist nur eine von unzähligen Herausforderungen in einer Welt der ungerecht verteilten Privilegien. Und doch und gerade deshalb möchte ich weiterhin still werden und vetrauen, dass aus der inneren Weite authentisches Handeln entstehen kann. Auf daß es eine kollektive Alternative geben möge zum Wegsehen oder der Überforderung. Laßt uns Superheld*innen der Tat werden – nicht aus schlechtem Gewissen, sondern aus Liebe.

„…you don´t have to solve it all, be the great saviour. All you need to do is listen and watch and do one thing you think is helpful.  ..do one thing and maybe tomorrow there´s a next thing. We have all the intelligence we need to act out of integrity.“
Jon Kabat Zinn

 

Die Dankeschöns der Woche:
gehen an Ka Schmitz für ihre erhellende Idee und an Justin Time für das Osterei.

Und noch ein Zitat:
„… ich möchte Sie (…) bitten (…), Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben sie ja dann, eines fernen Tages, in die Antwort hinein.“
Rainer Maria Rilke (Briefe an einen jungen Dichter)