Blog

28. Januar 2021
Das Paradoxon umarmen – Einladung zum Tanz mit der Distanz.

Wenn wir mit Worten spielen, muss das nicht immer logischen Sinn machen – im Gegenteil: wo Logik keinen fruchtbaren Weg mehr findet, kann das Denken vielleicht, von Gesetzmässigkeiten befreit, wieder ungehindert atmen. Also, lasst uns spielen, lasst uns Raum schaffen, lasst uns heute ein Wort befreien: die DISTANZ.

Ich lade Euch ein.

Wenn wir ordentlich und etymologisch beginnen, beschreibt unser Wort den Zustand des „voneinander entfernt Stehens“ – was ja an sich noch nicht so lustig und unerwartet ist. Weil wir aber auch unordentlich denken dürfen, können wir uns jetzt fragen: warum eigentlich stehen? Weil, wenn schon voneinander entfernt, dann entfernen wir doch gleich das Dis (und seine Implikation der Trennung) nicht von stare (stehen), sondern von… Tanz. Der, wenn in seiner Wortherkunft auch unscharf, so doch immer mit irgendeiner Form von Bewegung assoziiert wird. Auf diese Weise eröffnen wir uns kreative Formen der Abstandsnutzung, über die wir spielerisch in Beziehung gehen, die Melodie von Begegnung vertanzen können. So wie hier (anschauen!) kann es aussehen, wenn der Bezug zweier Menschen sich unabhängig davon entfalten darf, ob physisch berührt wird oder nicht. Und ja, das ist relevant in dieser Zeit und für uns – auch ohne Parkett unter den Füssen.

Wir sind nicht gezwungen, stehen zu bleiben, weder innerlich noch äusserlich. Wir können uns bewegen – und zwar bewegen mit dem Raum, der im Dazwischen entsteht. Zwischen Menschen, zwischen unseren Erwartungen und der Realität, zwischen scheinbaren Widersprüchen, die gleichzeitig Gültigkeit haben. Dieser Raum kann kostbar sein, ein Experimentierfeld, eine Horizonterweiterung. Denn manchmal lässt sich aus ein wenig Distanz besser sehen, lässt sich der Blick leichter von der Verstrickung mit dem „genauso haben wollen“ heben. Und wie in den Koan_Übungen des Zen ist es manchmal der bewusst gesuchte Umgang mit dem Unvereinbaren und Paradoxen, der tieferes Erkennen fördert. Wenn wir uns trauen, das Denken von der Meinung zu befreien.

Nehmen wir einfach mal einen Moment lang an, dass dieser in DisTANZ entstehende Raum, dieser Ort im Dazwischen, etwas Gutes ist. Dass er nicht ausgehalten, sondern genutzt werden will. Lassen wir diesen Gedanken zu, erlauben wir uns den Tanz mit dem Unkontrollierbaren, dem Unerwarteten. Erlauben wir uns, auf ungeplante Impulse zu reagieren und zu sehen, was passiert. Vielleicht finden wir so ein paar ungewöhnliche Rhythmen, die aus der Reibung mit dem Selbstverständlichen entstehen. Schön wäre das.

Lasst uns den Raum mit Fülle füllen. Mit Leben.

 

 

Tango mit dem Widerspruch. Ein Resümee der Aktion WÄRME IM PAKET.
Vor ein paar Tagen hat nun auch die letzte kleine Socke das Lager auf Lesbos erreicht. Die schleifenverzierten Päckchen wurden verteilt und tun, was sie tun sollen: wärmen. Das ist gut.
Gleichzeitig hat sich in der grundsätzlichen Situation in Griechenland und an den anderen EU_Aussengrenzen nichts bewegt. Das ist nicht gut und verlangt radikal verändertes Handeln, wie dieser Brief aus Lesbos von Omid Deen Mohammed und Raed al Obeed schon zu Weihnachten deutlich machte. Wie auch der Verein Seebrücke aus der hiesigen Perspektive betont.
Ich glaube noch immer, dass beides richtig ist: das Stricken/ das Spenden für winterfeste Zeltplanen – UND das Bestehen auf nachhaltigen Lösungen. Scheinbare Widersprüche, die gleichzeitig Gültigkeit haben, wie gesagt.
Wollen wir den Raum dazwischen nicht einfach nur aushalten, sondern nutzen, sollten wir miteinander reden, Fragen stellen, zuhören, gemeinsam Ansätze suchen. Zum Beispiel im Februar auf der Online_Konferenz  „Die (Re)konstruktion der Welt“ von medico international.
Vielleicht treffen wir uns ja da!

 

Tanzen mit der Sprache.
Kübra Gümüşay schreibt in ihrem wunderbar politisch_poetischen Buch Sprache und Sein unter anderem vom Reichtum, der in der Mehrsprachigkeit lebt – und von unerwarteten Freiräumen. So zitiert sie Elif Şafak:
Wenn ich zwischen dem Türkischen und dem Englischen pendle, achte ich auf Wörter, die sich nicht direkt übersetzen lassen. Ich denke nicht nur über Wörter und Bedeutungen nach, auch über Leerstellen und Lücken. Merkwürdigerweise habe ich im Laufe der Jahre festgestellt, dass Distanz manchmal näher zum Ziel führt; wer einen Schritt zurücktritt, erkennt klarer, was er vor Augen hat. Wenn ich auf Englisch schreibe, entfernt mich das nicht von der Türkei; im Gegenteil, es bringt mich ihr näher.

 

Im Walzertakt mit der inneren Haltung.
Weil ich mich immer wieder so freue an der Freiheit, sich zu einer Situation so oder so zu verhalten (DisTANZ, Baby!), schenk ich Euch hier eine Momentaufnahme. Kontext: eine Anne wird gegen ihren Willen weggeschickt, die Kutschfahrt ist also nicht unbedingt als vergnüglich angelegt. Ab 0:50 dann Euer positiver Dialog des Tages:
„I´ve made up my mind to enjoy this drive…“.
Enjoy!

 

Fürs Entdecken des Tanzes in der Distanz bedanke ich mich sehr
bei Andrea, die per email mit ihrem „kleinen, distanzlosen Gruß“ Musik ins Wort brachte –
und die Fülle in den Raum zwischen uns.