23. April 2020
It don´t mean a thing if it ain´t got that swing –
eine kleine Improvisation über den Begriff der Freiheit
Als dieses Jahr noch keine Minute alt war und wir auf dem Parkett der Alten Fabrik zur Livemusik schwoften, hab ich die taufrischen Roaring Twenties aus tiefstem Herzen dem Tanzen gewidmet. Allem, was ich schon so lange liebe, zwischen Walzer und skanking, Ballhaus und Party – und aber sehr auch dem Lindy Hop, einem Swingtanz, der so aussehen und sich schon beim Mitwippen fröhlich anfühlen kann. Das war ein glücklicher Moment, in dem mir nochmal bewusst wurde, wie wichtig mir die bewegte Musik ist, mit allem, was sich darin lebendig anfühlt. Und mit allem, was darin Freiheit ist.
Als dann relativ bald vorbei war mit Unterricht, Swingparties, lang geplanten Workshops und selbst dem heimischen Gehopse mit der wohnungsfremden Tanzpartnerin, war das erstmal ein wenig wie gegen die Wand laufen – eine Variante eingeschränkter Freiheit, wie sie gerade überall erfahrbar ist. Arbeiten, Feiern, Umarmen: die Begrenzungen trafen viele von uns eher unvorbereitet. Denn wer wie ich in der BRD aufgewachsen ist und nie einen Krieg miterlebt hat, erfuhr äußere Einschränkungen der Freiheit bisher nur in sehr geringem Maß. Oder erst, wenn die eigene Freiheit mit grösseren Interessen in Konflikt geriet – ob im politisch/ wirtschaftlichen Zusammenhang oder in Bezug auf die internationale und ökologische Gemeinschaft. Der Begriff der Freiheit im Kapitalismus war ja schon immer ein problematischer, weil zum einen das ehrliche Verhandeln des wachstumsorientierten Rahmens nicht vorgesehen ist – und zum anderen, weil Freiheit ohne Gerechtigkeit, wie Jean Anouilh schreibt, immer Willkür sein muss. Das ethische Bewusstsein darüber, dass die Freiheit des Einzelnen da aufhört, wo das Recht des Anderen beginnt, ist in unserer vernetzten und globalisierten Welt leider nicht besonders hoch.
Was also meine ich, wenn ich über den derzeitigen Verlust einzelner Freiheiten nachdenke? Was verlieren wir? Was können wir verlieren? Natürlich ist es auch jetzt wichtig, aufmerksam zu bleiben für die Struktur dessen, was passiert. Fragen zu stellen, Autoritäten zu prüfen. Und doch und gleichzeitig kann für unseren Alltag – für das, was unser persönliches Hier und Jetzt ausmacht – eine andere Lesart des Freiheitsbegriffs sehr hilfreich sein. Eine Lesart, die uns von Opfern einer Einschränkung zu Handelnden werden lässt. Die erfasst, dass es unabhängig vom konkreten Umstand immer möglich ist, sich des eigenen Reagierens auf diesen Umstand bewusst zu werden. Auszuatmen, die Perspektive zu weiten und das angepasste Handeln aus freien Stücken zu wählen. In einem Beispiel, das so undramatisch daherkommt wie das meine, war die Antwort leicht. Weitertanzen! Herausfinden, was die Essenz dessen ist, was ich vorhatte – und es demgemäss verändern. So erlebten meine Roaring Twenties nach dem kurzen Tief dann auch ein sensationelles Comeback, völlig anders und irgendwie auch wieder gar nicht. Als der Swingjazz noch immer so froh machte, gab es längst schon die solo jazz – Schritte. Und längst den Weg ins weltweite Netz, wo die dann zum Beispiel so aussehen und darauf warten, auch von mir getanzt zu werden. Mit aller Liebe. Weil immernoch: bewegte Musik, mit allem, was sich darin lebendig anfühlt. Und mit allem, was darin Freiheit ist.
„(Man kann) dem Menschen (…) alles nehmen (…), nur nicht die letzte menschliche Freiheit,
sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen.“
Viktor Frankl
Tanzexperiment der Woche:
Such Dir ein bis drei Stücke Musik, die Du liebst (oder probier die da unten aus, die mir gerade Spass machen). Finde wirklich verschiedene Stile, zu denen Du Dich bewegen willst – ganz ohne Regeln, Können und Wissen und „so, als ob niemand zusieht“. In meiner Sammlung sind die Atmosphären zum Beispiel meditativ, lustig und irgendwie cool. Probier dann, wie sich der Tag anfühlt, wenn Du ihn tanzend beginnst. Tanz vorsichtig oder wild, tanz schlicht oder hochgradig Dirty Dancing_mässig.
Gehst Du morgens immer auf die Yogamatte, reicht vorher oder nachher vielleicht das Meditative. Vielleicht aber auch nicht **
Shastro (bansuri, live): sitting in zen
Brandi Carlile & Friends: Lovesick Blues
Beats Antique: Borino
Tanzen lernen der Woche:
Jetzt gerade findest Du natürlich alles, was Du schon immer lernen wolltest, auf youtube. Geh in die Vollen, mach Dein Wohnzimmer zum Trainingsraum! Wenn wir dann alle wieder in die analogen Kurse „mit Anfassen“ dürfen und Du nicht eh schon Tango Argentino tanzt, versuchs doch mal mit Lindy Hop in Überlingen oder auch mit Walzer, Chacha & co in Meersburg.
Lesevorschlag der Woche:
Spektrum der Wissenschaft KOMPAKT: Tanzen. Gesunde Bewegung im Takt.
Und noch ein Zitat:
Frei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen,
das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert. Nelson Mandela