12. April 2021
MeinungsFREIHEIT – über die Notwendigkeit des Streitens.
Es gibt Erkenntnisse, die mich immer wieder mit solcher Wucht treffen,
dass ich sie in die Welt schreien möchte. Eine davon ist diese:
Wenn wir auf diesem Planeten (der ohne uns sicherlich wunderbar zurechtkäme) überleben wollen – und wenn wir zusammen mit allen auf ihm lebenden Menschen, Tieren, Bäumen und zukünftigen Generationen gut leben wollen, braucht es ein Umdenken. Jetzt. Wir müssen uns grossflächig dafür entscheiden, den absurden Wahn des unbegrenzten Wachstums mit der Logik der Nachhaltigkeit zu ersetzen – die Gier als Entscheidungsmotivation zu verabschieden. Soll dieses Umdenken global weiter an Kraft gewinnen, braucht es das kreative und vielfältige Netzwerk derjenigen, die heute schon eine solche Vision teilen. Ein Netzwerk, innerhalb dessen unterschiedlichste Menschen und Institutionen auf Basis dieses Minimalkonsenses Bündnisse schliessen. Und bereit sind, die konkrete Umsetzung der Vision miteinander zu verhandeln.
Zu erstreiten.
Ich würde gern Teil einer solchen Entwicklung sein – am Liebsten, ohne zu schreien. Allerdings ist die komplexe Herausforderung des fruchtbaren Erstreitens durchaus kein kleiner Schritt. Mal ganz ehrlich: können wir uns etwas so Ambitioniertes wie die Weltrettung überhaupt zutrauen, wenn unsere Souveränität oft schon kaum dazu reicht, im Alltag respektvoll und konstruktiv in Widerspruch zu gehen? Wenn ich zum Beispiel aus Angst um eine Freundschaft Gesprächen über Querdenker aus dem Weg gehe oder in der Diskussion über diskriminierungsfreie Sprache mithelfe, einen lauschigen Kaffeeklatsch eskalieren zu lassen? Kann ich, können wir überhaupt (noch) streiten? Trauen wir es uns?
Ich glaube, wir sollten!
Auch wenn das gar nicht so leicht ist, könnten wir immer mal wieder den sicheren Boden der geteilten Meinung verlassen und uns hinauswagen ins unbekannte Terrain des Dissenz. Könnten Neugierde entwickeln auf das, was wir nicht kennen und wissen, auf andere Geschichten und unvertraute Ideen. Warum nicht? Lasst uns MITEINANDER streiten statt gegeneinander, lasst uns versuchen, sorgfältig zu denken und großzügig, uns vielleicht sogar für ein paar himmlische Momente der Meinung zu entledigen, meinungsfrei Gedanken zu entwickeln. Es könnte erfrischend sein, nicht immer schon vorher zu wissen, wo wir hinwollen – oder angestrengt zu verteidigen, wo wir sind. Recht behalten zu wollen, mit aller Gewalt. Erfrischend auch, uns über die Verbindung unserer verschiedenen Perspektiven gemeinsam an so etwas wie Objektivität anzunähern.
Die Frage wäre also: können wir damit aufhören, in unseren Ecken zu sitzen und uns mit Meinung zu bewerfen? Können wir uns lösen aus den kurzatmigen, polarisierenden und aufreibenden Diskussionen über falsch und richtig – und auf der Basis geteilter Werte um etwas ringen, was im experimentellen Dazwischen entsteht? Zum Wohle des Planeten und der generellen guten Stimmung unsere kommunikativen Superkräfte schulen? Ich glaube ja.
Und das Großartige ist: ich kann selber schonmal damit anfangen.
Was ich eigentlich sagen will:
Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.
Rumi
Und warum ich es sagen will.
Es gibt gerade zwei Filme, die mich noch einmal aufs Neue – und aufs Tiefste – mit der Notwendigkeit einer Neuorientierung konfrontiert haben. Mit der Notwendigkeit, gemeinsam und klug zu handeln. Und der Frage: wie.
Einer davon ist die Dokumentation a life on our planet von David Attenborough – für den sogar ich einen Monat Netflix empfehlen würde. Denn unabhängig davon, ob Euch alle Fakten bekannt sind oder sich hier und da andere Schlussfolgerungen ziehen liessen: ich glaube, dass wir jedes Aufrütteln brauchen können, das sich bietet – und jeden Lösungsansatz. Auf dass wir alle – und alle zusammen – ins Überlegen kommen, ins Streiten und Handeln.
TRIGGERWARNUNG: auch wenn dieser Film ab 6 (!) zugelassen ist, würde ich ihn NICHT für Kinder empfehlen. Und ihn auch selber nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit kucken, ehrlich gesagt. Er kann bei zwei Menschen mit stabilem Maximalkonsens sowohl streitbaren Optimismus als auch erschrockenen Pessimismus auslösen.
Das gilt auch für die Serie Years and Years, die wohl bald wieder (in für mich unsäglicher Synchronisation) im ZDF läuft. Falls Euch das konsequente Weiterdenken gesellschaftlicher Entwicklungen in die Zukunft reizvoll erscheint und Euch weite Strecken der Dystopie nicht schrecken, kann Euch das Ganze vielleicht ähnlich inspirieren wie uns. Wenn´s nur irgend geht, organisiert dafür die Originalversion – oder ruft mich an, ich verborge gern unsere DVD **
Selbstreflexion(svorschlag) des Monats.
Eine Frage, die ich mir sehr gerne hin und wieder stelle ist die: bin ich in der Lage, in einem besonders herausfordernden Gespräch auch einfach mal die Klappe zu halten? Still zu sein und wirklich zuzuhören? (Hier passt eine kleine Meditation über das Anagramm SILENT – LISTEN.)
Wenn wir uns gegenseitig Raum lassen, statt immer lauter rechthaben zu wollen, könnten Zwischentöne hörbar werden, die das Gespräch bereichern und vertiefen. Wäre die Auseinandersetzung ein Stück Musik, würden seine Harmonien vielleicht attraktiver mit der einen oder anderen Reibung – und mit dem Element der Pause, das eine Grundlage ist für unerwartete Rhythmen.
Klingt das nicht viel Interessanter als mein immergleiches Lied?
Es wurde immer schon gestritten.
Das gemeinsame Ringen um Erkenntnis hat eine lange Tradition und wurde in theologischen und philosophischen Diskursen aller Kulturen oft regelrecht zur Kunstform erhoben. Die Chance auf tieferes Verstehen, die darin liegt, sich zuzuhören, zu ergänzen und zu widersprechen, wird auch von heute Nachdenkenden und Forschenden immer wieder gern genutzt. Im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit werfe ich hier einfach mal Beiträge von Uwe Schneidewind, Maja Göpel, Niko Paech/ Harald Welzer und Maren Urner in den virtuellen Raum. Viel Spass beim Mitdenken!
..und auch wiederum NICHT gestritten **
In der türkischen Sprache, habe ich neulich bei Kübra Gümüşay gehört, gibt es ein Wort für die liebevolle Verbundenheit, die in einem Gespräch entstehen kann, bzw. für ein solches Gespräch selbst: Muhabbet. In all dem Nachdenken über unvertrautes Gelände und mutige Konfrontation erscheint mir dieses Beisammensein wie ein nach Hause kommen, ein Ort, an dem alles gut ist und Kraft getankt werden kann. Glücklich sein, sagt Hilal, und sich freuen, mit der anderen reden zu können, vielleicht auch endlich mal wieder und mit aller Zeit der Welt. Und dass genau das manchmal fehlt in einem Gespräch mit Fremden: dieses Gefühl der Geborgenheit.
So viele Qualitäten von Gespräch, die möglich sind.
Vielen Dank diesmal an
Luca für den legendären Satz, Hilal für die inspirierende Übersetzung und Bernd für die Erinnerung, dass das Fruchtbare eines Gesprächs auch im Nachklang entstehen kann, wenn sich die eigenen inneren Wogen geglättet haben.