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30. April 2020
Sehnsucht nach der vertrauten Absurdität –
ein freundliches Zurückweisen des Normalitätsgedankens

Die Zeit vergeht, und noch immer ist unser tägliches Leben irritiert vom Nichtsowirklichverstehen, von Vorgaben und Theorien der einen oder anderen  Art. Noch immer erscheint mir Ausatmen als eine gute Grundlage für eine grössere Klarheit in alldem, für ein Nachdenken zum Beispiel über die Illusion von Kontrolle, über Berührung, Ambivalenz, den Begriff der Freiheit (ihr wisst schon) – und fürs Handeln. Wohin uns das dann führt und was uns in den nächsten Wochen noch so alles erwartet, können wir nicht wissen. Der nahezu kollektive Wunsch allerdings nach möglichst bald wiederhergestellter Normalität – der ist mittlerweile nicht mehr zu überhören.

Ein verständlicher Wunsch? Auf jeden Fall. Einer, den wir wirklich erfüllt sehen wollen? Ich WEISS nicht.
Sicher kann eine Verlängerung des jetzigen Zustands ins Unendliche in niemandes Interesse sein – aber wollen wir nicht ein wenig ambitionierter wünschen? Den Moment der Irritation nutzen, um scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen?
Normalität auf unserem Planeten war schon seit Langem ein lebensgefährlicher Zustand. Gefährlich für viel zu viele Menschen, gefährlich für das Zusammenspiel allen Lebens. Wo das scheinbare Recht auf ungebremste Mobilität und Kommunikation, der hemmungslose Verbrauch von Ressourcen und die konsequente Unterordnung aller Interessen unter die Interessen des Marktes normal sind, kann Normalität kein Wunsch sein, der mir das Herz erwärmt. Der meine eigene Rolle in diesem Ganzen freundlich und hilfreich erscheinen lässt. Was also stattdessen? „In Deutschland ist ein Leben ohne Mango zumutbar“, zitiert die taz den Wachstumskritiker Niko Paech. Auch ohne Ingwer?, frage ich mich bang und bin schon mitten drin in einer Auseinandersetzung mit der eigenen Konsumverzichtsbereitschaft.

Aber will ich, wollen wir in diese Normalität denn allen Ernstes zurück? Zurück in eine Vertrautheit, in der es zwar immunstärkende subtropische Wurzelgewächse in europäischen Gemüseauslagen gibt – die aber nur mit einem gerüttelten Maß an Illusionen (oder für popkulturell Interessierte: der blauen Pille) als kuschlig empfunden werden kann? Und möchte ich dieses Gefühl meiner gut versorgten Vertrautheit abhängig machen von Umständen, Freiheiten und Besitztümern, die dem großen Ganzen letztendlich schaden? Nein, das will ich natürlich nicht.

Und deshalb atme ich als erstes einfach mal aus, das ist für mich immer der Anfang. Werde still und entspanne mich in die Weite, die so entsteht. Weite auch meine Perspektive, beobachte ohne Wertung und ohne Erwartung. Ruhe in dieser Weite, die mir vertraut geworden ist. Ruhe in der Vertrautheit, die uns allen immer zugänglich ist – ganz ohne Nebenwirkungen und verquere Normalität.
Von hier aus kann es leichter werden (und nicht nur für mich), sich wach und mutig in dieser Welt und ihrer Veränderbarkeit zu bewegen. Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, auch die eigenen. Allem Leben mit Sorgfalt und Interesse zu begegnen, mit Dankbarkeit und Mitgefühl.
Lasst uns Keimzellen werden für Veränderung, für Liebe, Großzügigkeit und den ganzen Rest – Gutes kann sich schliesslich auch vermehren! Besinnen wir uns auf das, was uns wichtig ist – und setzen wir uns überall dort, wo es uns möglich erscheint, für das ein, was wir für richtig halten. Unabhängig davon, was ein Virus sagt.

 

Videos der Woche:
Let the sunshine in
Sorry, ich konnte nicht anders

Kleine Veränderungsvorschläge der Woche:
Verlasst den Amazonas und kauft regional, wo es geht. Dankt einem Baum fürs Atmen. Atmet.

Jannes Dankeschön der Woche:
geht an Conny für ihren Leserinnenbrief und die Bullerbü – Alternative zu 5G. Und an Ute.